Blog - Seite 60 von 114 - Evangelische Kirchengemeinde Gütersloh

Gedanken zum 3. Son. n. Trin., 28.06.2020, und zu Micha 7,18-20 u. Lukas 15,1-3+11-32

„Jesus sagt: Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“          Lk. 19,10

„Suchen und Finden“ – darum geht es in diesem Wochenspruch.

Und um „Suchen und Finden“ geht es in den Texten, die diesem Sonntag zugeordnet sind – und das ist unter anderem fast das ganze 15. Kapitel des Lukasevangeliums. Als Theologiestudenten haben wir immer gesagt: „Das ist das Kapitel der verlorenen Menschen, Tiere und Gegenstände.“ – oder um einige Stichworte zu nennen: „Das verlorene Schaf, der verlorene Groschen und der verlorene Sohn.“

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Haben sie auch schon einmal etwas verloren ?
Einen Schlüssen vielleicht ? Das kann ganz schön ärgerlich sein, wenn man vor der verschlossenen Wohnungstür steht und nicht hereinkommt.
Manchmal sind es aber auch nur Kleinigkeiten. Wo war noch einmal die Schere ? Mein Vikariatsmentor pflegte in so einem Moment immer zu sagen: „Suchen hilft nichts. Nachdenken, wo man sie zuletzt gehabt oder gesehen hat.“

Aber es können auch wichtigere Dinge verloren gehen:
Eine Freundschaft oder eine Partnerschaft zum Beispiel.
Oder der Traum von einem bestimmten Beruf, der von einem auf den anderen Moment zerplatzte.

Und so erfahren wir Menschen auf unseren Lebenswegen immer wieder im Kleinen und im Großen, dass etwas verloren geht. Und manchmal sind es auch wir selbst, die wir uns verlieren. Das lesen wir im Gleichnis vom verlorenen Sohn – doch eigentlich müsste es das Gleichnis von den zwei verlorenen Söhnen heißen.

Und an diesem Sonntag der verlorenen Gegenstände, Tiere und Menschen hören wir von Jesus:
„Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“
Dieses Versprechen gilt jetzt auch für uns.

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Doch das mit dem „Suchen und Finden“ ist so eine Sache.
Und zum Thema „Suchen und Finden“ lesen wir etwas sowohl im Prophetenbuch des Micha, als auch im Lukasevangelium. Sie können beide Texte ja einmal nachlesen.

Doch eigentlich ist die ganze Bibel ein Buch, in dem in vielfältiger Weise davon erzählt wird,

  • wie Gott uns Menschen nachgeht
  • wie er immer wieder vergibt, woran wir scheitern
  • wie seine Liebe sich durch schier Garnichts erschüttern lässt
  • wie seine Geduld mit uns unendlich zu sein scheint
  • und wie er einfach nicht von uns, seinen Geschöpfen, lassen kann
  • sondern am Ende immer mit offenen Armen auf uns wartet – wie der Vater in Jesu Gleichnis.

Kurz: die ganze Bibel ist so etwas wie die Liebeserklärung Gottes an uns – oder anders gesagt: Sie ist Gottes Liebesgeschichte mit uns – eine meist sehr einseitige Geschichte, in der er uns immer wieder neu nachgeht um uns zu finden.

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Und genau darum, dass Gott Menschen nachgeht und sie neu findet, geht es auch im Prophetenbuch des Micha.

Gott schickt Micha hier zu seinem Volk, das sich von ihm abgewendet hatte.
Und Gott legt ihm seine Worte in den Mund.
Es sind harte Worte des Gerichts.

Unheil soll über die Städte kommen.
Die Machthaber werden in ihrem unrechtmäßigen Handeln entlarvt.
Sie nehmen den einfachen Menschen ihre Äcker und ihr Hab und Gut weg.
Und für sie ist das Volk nur die Quelle ihrer eigenen maßlosen Bereicherung.
Sie rauben es aus.
Lassen sich bestechen.
Und leben dabei selbst in Saus und Braus.

Gnadenlos rechnet der Prophet im Auftrag Gottes mit den Städten im Land ab, mit den Regierenden, mit den Führenden der Gesellschaft, die sich an all dem Unrecht beteiligen – ja, am Ende rechnet er sogar mit den religiösen Führern ab, die zu allem schweigen – oder ebenfalls mitmachen.

Und auch über das einfache Volk bricht der Prophet den Stab, denn auch sie machen bei Lug und Trug mit wo sie nur können.

„Der beste unter ihnen sei wie ein Dornstrauch und der redlichste unter ihnen schlimmer als eine Dornenhecke“ – sagt der Prophet. Wir würden heute vielleicht sagen: „Der beste und redlichste ist wie Giersch im Garten.“

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Immer wenn ich in den Prophetenbüchern des Alten Testaments lese, dann denke ich: „Irgendwie kommt dir das alles bekannt vor.“
Und wenn ich anschließend in die Zeitung schaue oder Nachrichten höre, denke ich: „So einen Propheten, der schonungslos die Wahrheit sagt, den könnten wir heute auch ganz gut gebrauchen.“

  • „Black lives matter“ – würde er vielleicht auf seinem Plakat stehen haben.
  • Und neben Greta würde er sich für den Erhalt der Schöpfung einsetzen.
  • Er würde die Diktatoren unserer Zeit an ihre Verantwortung für die Menschen ihres Landes erinnern.
  • Den Terroristen vom IS oder von Boko Haram würde er sagen, dass ihre Gewalt und ihr Töten nicht durch auch nur irgendeine Religion auf dieser Erde zu rechtfertigen ist.
  • Und dass wir über unser Verhältnis zu billigem Fleisch nachdenken müssen würde er uns ebenfalls sagen.

So ein Prophet würde heute aber auch

  • strukturelles Unrecht anprangern und die Lieferketten hinterfragen
  • er würde uns sagen, dass wir für Menschenrechtsverletzungen mitverantwortlich sind, wenn wir Geschäfte mit Ländern machen, die Menschenrechte verletzten
  • er würde uns zwingen die Augen dafür zu öffnen, dass jede und jeder von uns Teil eines ungerechten Systems ist – eines Systems, das wir verändern könnten, wenn wir denn nur wollten.

Er würde keine Ausrede zulassen – kein: „Was kann ich schon tun ?“ und kein: „Da kann man nichts machen.“
Ja, er würde uns allen – Kleinen und Großen gleichermaßen – genauso auf die Füße treten, wie vor gut 2 ½ tausend Jahren es Micha getan hat.
Er würde uns einen Spiegel vorhalten, der schonungslos wiedergibt, was alles bei uns falsch läuft. Und dieser Spiegel würde keine Schönfärberei zulassen, sondern uns die Wirklichkeit ungeschminkt vor Augen malen.
Ja, damals und heute verstehen wir Menschen es hervorragend, uns selbst zu betrügen und Rechtfertigungen für unser Handeln zu finden, das eben nicht zu rechtfertigen ist.

Viel zu oft verlieren wir Menschen so uns selbst – und wir verlieren Gott, weil wir uns von ihm abwenden.

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Aber Gott wäre nicht Gott, wenn diese harten prophetischen Worte seine letzten wären. Und so kann Micha am Ende seines Prophetenbuchs eben auch sagen:

„Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat gefallen an Gnade ! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und all unsere Sünden in die Tiefe des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unseren Vätern vorzeiten geschworen hast.“  ( Micha 7,18-20 )

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Vom „Suchen und Finden“ handeln diese Worte. Von Gottes Suchen – und wie er seine Menschen immer wieder neu dadurch findet, dass er ihnen nachgeht und ihnen gnädig ist. Er räumt weg, was wir aufgebaut haben und was uns von Gott, voneinander und auch von uns selbst trennt.

Und er erneuert so immer wieder neu das Versprechen, das er schon den Vorvätern gegeben hat.

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Micha war nicht der letzte Prophet, den Gott zu seinen Menschen geschickt hat.
Immer wieder waren welche nötig.

Und zuletzt ist Gott in Jesus Mensch und unser Bruder geworden – auch wieder, um uns zu suchen und zu finden.

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Und dann ?
Als von Gott neu in den Arm genommene Menschen können wir doch nicht einfach so weitermachen, wie bisher.
Das gilt auch für den verlorenen Sohn, von dem Jesus im Gleichnis erzählt hat. Leider sagt er kein Wort darüber, wie diese Erfahrung ihn verändern hat und wie sein weiteres Leben dann wohl ausgesehen hat.

Aber ich stelle mir vor, dass er von dem Tag an so gelebt hat, dass andere auf ihn aufmerksam geworden sind.

Ja, ich denke, dass er auffiel – durch das, was er tat – und mehr noch durch all das, bei dem er nicht mehr gedankenlos mitmachte.

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Und solche Menschen dürfen wir ebenfalls sein:
Menschen, die auffallen,
Menschen, die sich einmischen,
Menschen, die Unrecht beim Namen nennen,
Menschen, die sensibel sind für andere – auch für den großen Bruder, der ja zuerst gar nicht glücklich über die Rückkehr seines verlorenen Bruders war,
Menschen, die selbst für andere zu Prophetinnen und Propheten werden.

Und wenn sie jetzt sagen: „Das kann ich nicht.“ Dann sagen sie etwas Richtiges.
Wir können das nicht von uns aus.
Aber als von Gott gesuchte und gefundene können wir das und noch viel mehr, weil wir nicht alleine sind.

Amen.

Ihr Pfarrer Ulrich Klein

Liebe Gemeinde!

Der für den kommenden Sonntag vorgeschlagene Predigttext ist uns überliefert im 7. Kapitel des Prophetenbuches Micha. Nach massiven Anklagen und Warnungen angesichts zum Himmel schreiender gesellschaftlicher Missstände endet der Text mit diesen Worten:

Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.

Was wir hier hören, liebe Gemeinde, ist Evangelium pur, ist Freudenbotschaft. Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt, fragte Micha einst staunend. Doch dieses Staunen geschieht nicht im luftleeren Raum. Sondern es steht am Ende eines Dramas, das man zwischen den Zeilen noch spürt. Darum muss auch davon die Rede sein. Denn wer sich die Zeit und Lebenswelt des Propheten hineinversetzt, den packt die Wut. Landraub ist an der Tagesordnung. Bestechliche Richter sprechen Recht für Geld. Jeglicher Gemeinschaftssinn ist verloren gegangen. Der Prophet klagt das Unrecht an. Sein Buch ist ein Buch für alle diejenigen, die sich auch heutzutage nicht damit abfinden können, dass die Welt so ist, wie sie ist. Denn wer die scharfen, entlarvenden Worte liest, wird nicht umhin können, die Zeitung daneben zu legen und kaum weniger wütend zu sein über Ausbeutung, Korruption und Rechtsbeugung an so vielen Orten dieser Welt in der Gegenwart. Manchmal liegt das Übel ganz nahe. Micha vergleicht die Reichen und Einflussreichen mit Metzgern, die ihren wehrlosen Opfern die Haut abziehen und ihr Fleisch zerlegen. Kein Schelm ist, wer jetzt an Tönnies denkt. Die Zahl der Corona-Infektionen im Schlachtbetrieb vor unserer Haustür und die sich daraus ergebenden Folgen für den Kreise Gütersloh, Warendorf und noch weit darüber hinaus schockieren. Schuldige und Verantwortliche für diese Katastrophe sind schnell gefunden und benannt. Clemens Tönnies an der Spitze, aber auch Politiker und Behörden, die viel zu lange geschwiegen und tatenlos mit angesehen haben, was in der Fleischbranche allgemein und nicht allein dort vor sich geht. Auch die Infizierten selbst sind gegenwärtig einem Spießrutenlauf ausgesetzt, vornehmlich Arbeitskräfte aus Südosteuropa, angeworben und beschäftigt über Sub-Sub-Unternehmer mit Niedrigstlohn-Knebel-Werksverträgen und einquartiert in heillos überbelegte Unterkünfte – häufig in Schrottimmobilien. Dieses ganze System ist krank und menschenunwürdig. Corona ist der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen bringt, dessen Füllstand bis zum Rand allerdings lange vorher schon uns allen vor Augen stand oder hätte stehen können. Wir alle sind Teil des Systems und tragen Mitschuld an den herrschenden Verhältnissen und aktuellen Geschehnissen. Bevor wir also Schuldige oder Sündenböcke suchen und benennen, müssen wir selbst unser eigenes Verhalten kritisch hinterfragen und dürfen nicht die Augen verschließen vor dem Unrecht, das unser eigenes Tun oder Lassen schafft, ermöglicht oder zulässt. Am vergangenen Samstag war in der Neuen Westfälischen ein bedenkenswerter Leserbrief eines Herrn Wildenhof abgedruckt zum Thema, den ich an dieser Stelle in voller Länge zitieren möchte. Da heißt es: „Hunderte Infizierte, Tausende in Quarantäne, der Kreis schließt Schulen und Kindertagesstätten und weitere Maßnahmen zur Eindämmung von SARS-CoV2 sind nicht ausgeschlossen. Viele geben jetzt der Firma Tönnies bzw. Herrn Tönnies die Schuld. Aber ist es nicht zu einfach? Ist Tönnies nicht das Werk all jener, denen billig vor Qualität geht? Ist Tönnies nicht erst entstanden, weil vielen Menschen die Preise beim Fleischer nebenan zu teuer waren und sie lieber im Supermarkt oder beim Discounter kauften? Das Virus zeigt uns allen sehr deutlich, wie klasse es die ‚Geiz-ist-geil‘- Mentalität findet, egal ob in der Fleischindustrie, bei den umweltbelastenden und teilweise selbst giftigen Produkten aus Fernost oder Schnittblumen aus Afrika, die früher so gut wie jedes Blumengeschäft im eigenen Gewächshaus selbst gezogen hatte. Das Virus kommt nicht von ungefähr und es werden weitere folgen, wenn kein Umdenken stattfindet.“ Zitat Ende.

Jüngst hat mitten in der Stadt der Weltladen Gütersloh neu eröffnet. Manche ärgern sich darüber, andere schütteln verständnislos den Kopf und prophezeien ein rasches Ende des ehrgeizigen Unternehmens. Aber es gibt auch solche, die denken und die sagen: Gerade jetzt und gerade an diesem Standort. Die angebotenen Waren sind allesamt hochwertig und brauchen sich nicht zu verstecken hinter vergleichbaren in anderen Geschäften. Ja, manche kosten ein paar Cent oder auch Euro mehr. Aber dieses Mehr bedeutet einen Mehrwert, der in Euro und Cent gar nicht ausgedrückt werden kann: nämlich Fairness gegenüber Produzenten, Gerechtigkeit und Menschenwürde im Blick auf Arbeitsbedingungen. Bio steht häufig auch noch auf den Verpackungen, das heißt: es wird auf natur- und ressourcenschonende Produktionsbedingungen geachtet zum Wohle unseres Planeten. Für uns gibt es nur diese eine Erde. Meine Empfehlung: Verzehren Sie zum Beispiel eine Tafel Schokolade weniger, was ja auch gar nicht ungesund ist, gönnen Sie sich aber dann und wann eine aus dem Weltladen. Ich verspreche Ihnen: Sie werden begeistert sein von Geschmack und Qualität. Und sollten Sie einen richtig guten fair gehandelten Wein suchen, so sprechen Sie mich gerne einmal darauf an. Ich bin mir selbst und auch Ihnen gegenüber diesbezüglich ganz ehrlich: Das erste und wichtigste Kriterium für mich lautet: Der Wein, die Schokolade, der Kaffee oder ein anderes Genussprodukt muss von guter Qualität und schmackhaft sein. Wenn es darüber hinaus fair gehandelt und mit einem Bio-Label versehen ist, um so besser. Fair und Bio allein ist für mich aber nicht alleiniges Kaufargument, vor allem dann nicht, wenn das Produkt die Magenschleimhaut schmerzhaft angreift oder – mit Loriot gesagt – so ein pelziges Gefühl auf der Zunge hinterläßt.

Nächstes Thema: Karstadt. Die jüngst beschlossene und verkündete Schließung des Standortes Gütersloh trifft vor allem die bisher dort Beschäftigten, aber auch die gesamte Stadt als eine weitere Katastrophe. Ja, wir lasen und hörten von finanzieller Schieflage seit Jahren, auch von Missmanagement in der Vergangenheit. Corona hat dem Unternehmen nun einen weiteren Stoß versetzt. Wir beobachteten und beobachten das mit Sorge. Jetzt empfinden wir Enttäuschung, vielleicht auch Zorn oder Trauer und wir fragen uns bange: Was wird werden? Aber ebenso sollten wir uns fragen: Tragen nicht auch wir mit unserem Kaufverhalten Mitverantwortung dafür, dass unsere Innenstädte mehr und mehr veröden, dass Fachgeschäfte und sogar Kaufhäuser mit breitem Sortiment verschwinden und offenbar nur noch 1-Euro-Shops, Handyläden oder Nagelstudios überleben können, während Internetriesen wie Amazon Milliardenumsätze generieren und weiter und weiter wachsen?

Liebe Gemeinde, ich spreche heute sehr konkret. Denn der vorgegebene Predigttext ist ein prophetischer Text. Und was die uns überlieferte biblische Prophetie auszeichnet, ist eben genau dies: Sie schließt nicht die Augen und den Mund vor den Missständen und drängenden Herausforderungen der jeweiligen Zeit. Sie will aufrütteln, sie will warnen. Sie will zur Besinnung und Umkehr führen. Möglich ist das aber nur dann, wenn Unrecht und Übel nicht totgeschwiegen werden. Nein, das darf um Gottes willen nicht sein. Der Prophet Micha stellt ihn uns vor Augen als den, dessen Vergebung den Zorn noch nicht hinter sich gelassen hat: Die Sünden, dieses himmelschreiende Unrecht, dass den einfachen Leuten widerfahren ist, tritt er kurz und klein und schleudert es ins Meer. Er kann diesen Irrsinn nicht länger mehr ertragen. Er handelt, um etwas Neues zu schaffen. So gibt er seinem Zorn eine klare Richtung: Er tritt die Tat, er trifft das Unrecht selbst und nicht die Täter. In gleicher Weise hat Jesus gehandelt im Umgang mit denen, die Schuld auf sich geladen hatten. Ihre Taten spricht er schonungslos an und verurteilt sie, diejenigen aber, die sich verschuldet haben, nimmt er an und spricht sie frei. So eröffnet er ihnen die Möglichkeit zur Besinnung und Richtungskorrektur auf neuen Wegen. Auf diesen Jesus blickend und ihn als Christus bekennend, stehen wir, liebe Gemeinde, in seiner Nachfolge. Auch wir wissen uns durch ihn begnadigt und befreit, angenommen und geliebt und brauchen gerade deshalb bestehendes Übel nicht zu verschweigen. Gott in und durch seinen Christus eröffnet uns einen weiten Raum für Neues dank des Zuspruches der Vergebung, der uns ermutigt und kräftigt zu einem Leben und Zusammenleben, das gekennzeichnet ist von Gerechtigkeit und Gemeinsinn. Dankbar dafür und darüber staunend können wir deshalb nun auch mit Micha sprechen: Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Amen.

Ihr Pfarrer Eckhard Heidemann

Corona bei Tönnies: Die Politik muss handeln!

Der Corona-Ausbruch bei Tönnies, dem größten Fleischkonzern Deutschlands, zeigt, dass das „System Billigfleisch“ überwunden werden muss. Die Politik müsse jetzt handeln, fordern das Amt für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung/MÖWe und das Institut für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW).

Die ersten Opfer des Corona-Ausbruchs und des „Systems Billigfleisch“ sind die Vertragsarbeiter aus Osteuropa, die unter unwürdigen Bedingungen im Schlachthof arbeiten und leben müssen. Kirsten Potz, Regionalpfarrerin des Amtes für MÖWe im Kirchenkreis Gütersloh, fordert: „Das Subunternehmertum und die Ausbeutung der Werksvertragsarbeiter und -arbeiterinnen muss abgeschafft werden! Wer die Augen vor diesen menschen-unwürdigen Arbeits- und Wohnbedingungen nicht verschlossen hat, für den ist es ein Wunder, dass es erst jetzt zu einer Katastrophe gekommen ist, die hoffentlich alle aufrüttelt.“

„Auch die Landwirte leiden unter dem Corona-Ausbruch und dem System Billigfleisch. Die niedrigen Preise zwingen sie in eine Fleischproduktion, die vor allem Masse verlangt. Die extrem schwierige Situation, in der nun viele Landwirte wegen der Schließung von Tönnies sind, zeigt, dass wir eine Ernährungswende brauchen mit einer Tierhaltung und Landwirtschaft, die nachhaltiger und damit auch krisenfester ist und der bäuerlichen, familiengestützten Landwirtschaft ein sicheres Einkommen ermöglicht“, sagt Volker Rotthauwe, Pfarrer für nachhaltige Entwicklung vom Institut für Kirche und Gesellschaft.

Francisco Mari, Agrarexperte des Hilfswerkes Brot für die Welt, ergänzt: „Dieses System der Fleischproduktion wird von einer Agrar- und Handelspolitik der Europäischen Union unterstützt, die arme Länder zwingt, deutsches Billigfleisch einzuführen. Das schadet seit Jahren Schweinemästern zum Beispiel in Südafrika oder Côte d’Ivoire.“ In den nächsten Jahren würden auch Millionen kleinbäuerliche Schweinehalter in Vietnam leiden, weil ein geplantes neues Handelsabkommen alle Schutzzölle für EU-Schweinefleisch abschaffen werde. „Zudem sind die niedrigen Exportpreise auch nur möglich, weil für die Fütterung Billig-Soja eingeführt wird und dafür Wälder in Brasilien und Paraguay gerodet werden.“

Katja Breyer, Beauftragte für den kirchlichen Entwicklungsdienst der EKvW, fordert, dass die Politik handeln müsse. Der öffentliche und politische Druck biete eine große Chance, aus dem „System Billigfleisch“ auszusteigen und zu einer nachhaltigen Landwirtschaft zu kommen. „Dafür sind Gesetze notwendig, die der Ausbeutung der Arbeiter und Arbeiterinnen in Schlachthöfen endlich einen Riegel vorschieben. Es braucht eine Agrarpolitik in der EU und Deutschland, die es Landwirten ermöglicht, nachhaltig Landwirtschaft zu betreiben und eine Handelspolitik, die Bauern in Entwicklungsländern nicht in den Ruin treibt. Ein entsprechendes Gesetz muss deutsche Unternehmen verpflichten, Menschenrechte und Umweltstandards auch entlang ihrer weltweiten Lieferketten zu achten.“

Auch die westfälische Präses Annette Kurschus hält eine neue gesellschaftliche Debatte über das Konsum-verhalten sowie Dumpingpreise und Dumpinglöhne in der Fleischindustrie für nötig. Mehr dazu hier.

Verantwortlich: Gunda von Fircks, Institut für Kirche und Gesellschaft, Stabstelle "Bildungsmarketing, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit", gunda.vonfircks@kircheundgesellschaft.de, Tel. 02304/755 347 und Dirk Johnen, Presse- u. Öffentlichkeitsarbeit, Amt für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung (MÖWe) der EKvW, dirk.johnen@moewe-westfalen.de, Tel. 0231 / 5409-293

Präses Annette Kurschus zu den Mutmaßungen, osteuropäische Werksarbeiter der Firma Tönnies hätten nach ihrem Heimaturlaub das Coronavirus „eingeschleppt“

Bielefeld/Gütersloh. „Ich bitte die politisch Verantwortlichen um Sorgfalt und Besonnenheit bei der Suche nach den Ursachen. In dieser angespannten Situation helfen keine einseitigen und voreiligen Schuldzuweisungen. Im Gegenteil: Sie schüren Ressentiments und gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt, den es gerade jetzt umso dringender braucht. Die Ursachen für die zahlreichen Neuinfektionen kann bis jetzt niemand eindeutig benennen. Es darf nicht sein, dass bestimmte Menschen von vornherein für schuldig erklärt und an den Pranger gestellt werden.

Wir müssen zum Beispiel auch die Frage nach der Unterbringungssituation und nach Hygienestandards in den Sammelunterkünften stellen. Nicht zuletzt braucht es eine neue gesellschaftliche Debatte über unser Konsumverhalten sowie Dumpingpreise und Dumpinglöhne in der Fleischindustrie.

Die Vermutung, osteuropäische Werksarbeiter der Firma Tönnies hätten das Coronavirus „eingeschleppt“, halte ich für eine zum gegenwärtigen Zeitpunkt unzulässige Spekulation. Sie entbehrt jeglicher belastbaren Sachgrundlage, sie verunglimpft ausländische Arbeitskräfte und droht, die ohnehin gereizte gesellschaftliche Stimmung zu deren Lasten aufzuheizen. Die Erkrankten und Infizierten im Kreis Gütersloh schließe ich in meine Gebete ein."

Präses Annette Kurschus ist leitende Theologin der Evangelischen Kirche von Westfalen und zugleich stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sowie EKD-Beauftragte für die deutsch-polnischen Beziehungen. (lka)

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