Aktuelles Matthaeus Archive - Seite 12 von 19 - Evangelische Kirchengemeinde Gütersloh

Predigt über Johannes 9,1-7

Liebe Leserin, lieber Leser,
als Predigttext ist für den heutigen Sonntag ein Abschnitt aus dem Johannesevangelium vorgeschlagen: Die Geschichte von der Heilung des Mannes, der blind geboren wurde.*

1 Im Vorbeigehen sah Jesus einen Mann, der von Geburt an blind war.
2 Da fragten ihn seine Jünger: »Rabbi, wer hat Schuld auf sich geladen, sodass er blind geboren wurde – dieser Mann oder seine Eltern?«
3 Jesus antwortete: »Weder er selbst hat Schuld auf sich geladen noch seine Eltern. Er ist nur deshalb blind, damit das Handeln Gottes an ihm sichtbar wird.
4 Wir müssen die Taten vollbringen, mit denen Gott mich beauftragt hat, solange es noch Tag ist. Es kommt eine Nacht, in der niemand mehr etwas tun kann.
5 Solange ich in dieser Welt bin, bin ich das Licht für diese Welt
6 Nachdem er das gesagt hatte, spuckte er auf den Boden. Aus dem Speichel machte er einen Brei und strich ihn dem Blinden auf die Augen.
7 Dann sagte er ihm: »Geh und wasche dich im Wasserbecken von Schiloach
Der Mann ging dorthin und wusch sich.
Als er zurückkam, konnte er sehen.

„Ich sehe was, was du nicht siehst…“ Erinnern Sie sich noch an dieses Kinderspiel?
Meist ging es darum, Dinge in bestimmten Farben zu erraten.
Mir kommt es so vor, als würde der Evangelist Johannes gerade dieses Spiel spielen, als er die Begegnung von Jesus und dem Blindgeborenen erzählt. Allerdings geht es ihm nicht um Farben, sondern um ganz anderes.

Lassen wir uns mal auf das Spiel ein und hören Johannes zu dem Blinden sagen:
Ich sehe was, was du nicht siehst, du namenloser Blindgeborener: Jesus kommt und sieht dich in deiner Bedürftigkeit, in deiner dunklen Welt. Du bist angesehen von Gott. Kein Wunder, denn Gott hat ein besonderes Auge auf die, deren Augen verschlossen sind.

Ich sehe was, was Ihr nicht seht, liebe Jünger!, setzt Johannes das Spiel fort. Ich sehe einen Blindgeborenen in seiner Not – und Ihr seht ihn nur, um die Schuldfrage zu diskutieren: Wer ist schuld daran, dass er blind ist? Wer hat gesündigt: Seine Eltern? Er selbst? Und die Blindheit – eine Strafe Gottes?

Selber schuld – höre ich auch heute:
Wenn ein Motorradfahrer verunglückt – selber schuld!
Wenn ein Flüchtlingsboot im Mittelmeer versinkt – selber schuld!
Wenn einer mit Covid19 aus Mallorca zurückkommt und schwer erkrankt – selber schuld!
So machen wir es uns leicht: Selber schuld! Ich bin nicht weiter zuständig.

Johannes sagt: Ich sehe was, was Ihr nicht seht. Ich sehe einen, der sich nicht aus der Verantwortung redet, sondern handelt. Ich sehe Jesus, der tut, was hilft: Spucke drauf!

Das findest du eklig? – Dann denk doch mal zurück, wie es damals war. Als du noch ein Kind warst und hingefallen bist und dein Knie tat dir weh. Mutter wusste, was gegen den ersten Schmerz half: Spucke drauf! Das ist doch genau das, was wir in der Not als erstes brauchen: Dass sich uns jemand liebevoll zuwendet. Seht, wie das hilft!

Und Johannes spielt sein Spiel weiter: Und ich sehe noch was, was Ihr Jünger nicht seht: Jesus bringt Licht, ja er ist das Licht. Und so heilt er.
Gott macht Blinde sehend, den Blindgeborenen und euch.

Und Ihr könnt Licht auf eurem Weg sehen und losgehen und neue Möglichkeiten entdecken für euer Leben, für eure Zukunft.

Irgendwie sind wir Menschen ja alle Blindgeborene. Wir brauchen andere, die uns helfen, die Welt zu sehen: Eltern, Erzieherinnen, Lehrerinnen, gute Freundinnen und Freunde und viele weitere Menschen. Auch der Glaube ist so eine Sehhilfe, um die Welt besser zu erkennen.

Ich sehe noch etwas, was Ihr nicht seht, höre ich Johannes sagen.
Ich sehe, wie blind Ihr seid, die Ihr euch für so klug und hellsichtig haltet. Ich sehe eure Blindheit gegenüber der Not der anderen.

  • Ihr seht weg, wenn Menschen in unserem Land wie Arbeitssklaven gehalten werden, wenn Tiere gequält werden, nur damit billiges Fleisch in Unmengen zur Verfügung steht.
  • Ihr seht weg, wenn die Schöpfung leidet unter eurem eigenen Konsumverhalten.
  • Ihr seid blind gegenüber der Not vieler Kinder, die grausames in ihren familiären Zusammenhängen erleben, seht nicht hin, hört lieber weg.

Dennoch: Gott sieht hin – und sieht auf euch, möchte euch die Augen öffnet, damit ihr lernt, genau hinzusehen – und dann auch handelt.
Gott sieht uns an. Wer darauf vertraut, wird sehend, lernt neu, sich und die Welt zu sehen.

Wer sich von Gott angesehen weiß, kann Schluss machen mit dem andauernden Blick auf sich selbst, kann Schluss machen mit der permanenten Selbstoptimierung, kann frei werden und den Blick nach vorne richten. Sieht was, was andere nicht sehen.

Wer sich von Gott angesehen weiß, kann die Aufgaben erkennen, die sich ihm und ihr stellen, die Verantwortung für die anderen und für die Schöpfung, für „Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit“, wie es im Wochenspruch heißt.

Ich sehe was, was du nicht siehst: Im Vertrauen auf Gottes Angesicht werden Blinde sehend.
Ich sehe was, was du nicht siehst – und das verspricht neues Leben für dich und die Welt!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Fürbitten

Lebendiger Gott, du siehst uns an
und wir sind angesehen in deinen Augen.

Wir bitten dich für alle körperlich blinden Menschen,
lass sie Hilfe und wenn möglich Heilung erfahren.

Wir bitten dich für alle, die im übertragenden Sinn blind sind,
sei es aus Angst vor der Wirklichkeit,
sei es aus Selbstzufriedenheit und Ignoranz.
Gib ihnen die Kraft, ihre Augen zu öffnen
und hinzusehen.
Gib ihnen den Mut, neue Wege zu gehen.

Wir bitten dich für uns selbst,
dass wir dir vertrauen
und mit offenen Augen und wachen Sinnen
durchs Leben gehen.
Dass wir die Aufgaben wahrnehmen,
die sich uns zeigen,
und Verantwortung übernehmen
für die Welt und deine Schöpfung.

 

Vater unser im Himmel,
geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung;
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit. 

Amen.

Ihr Pfarrer Michael Frentrup

 

*Übersetzung der BasisBibel

KIRCHENKREIS GÜTERSLOH – „Wir freuen uns sehr, dass der besondere Lockdown im Kreis Gütersloh aufgehoben ist. Deshalb laden wir am kommenden  Sonntag wieder herzlich zu Gottesdiensten in unseren Kirchengemeinden im Raum Gütersloh ein“, sagt Pfarrer Frank Schneider, Superintendent des Ev. Kirchenkreises Gütersloh. So schwer es ihm gefallen war, den Gemeinden zu einem Verzicht auf Gottesdienste zu raten, so sehr merkt man ihm nun die Freude an. „Die Begegnung im Gottesdienst und eigentlich auch in den Gemeindegruppen zu ermöglichen und Nähe erlebbar zu machen, ist unsere Stärke“, betont der leitende Theologe.

Gottesdienste finden in Gütersloh am 12. Juli 2020 statt in der

    • Evangeliumskirche, 9.15 Uhr, Pfr‘in Brunken
    • Matthäuskirche, 10.30 Uhr, Pfr. Salzmann
    • Apostelkirche, 9.30 Uhr, Pfr‘in Engelbrecht

 

Gottesdienst Regelung in den Ferien
Da der Gottesdienstbesuch aufgrund der Hygienemaßnahmen weit unter den Sitzplatzkapazitäten der Kirchen liegt, wird in den Sommerferien – wenn der Besuch traditionell rückläufig ist – jeweils wechselnd in der Hälfte der evangelischen Kirchen Gottesdienst gefeiert. Alle Termine und Andachten auf www.ekgt.de

Liebe Leserin, lieber Leser,

noch ganz unter dem Eindruck der Ereignisse hier im Kreis Gütersloh rundum Tönnies lese ich den Predigttext für Sonntag. Und es kommen mir aus der erzählten biblischen Szene Themen entgegen wie: Nahrungsmittel, wirtschaftlicher Erfolg oder auch Misserfolg, Schuld, Arbeit unter harten Bedingungen, Schrecken und der Aufruf, anders zu leben.

Immerhin: es geht nicht um Fleisch, schon gar nicht um Billigfleisch, sondern um Fisch. Das ist vielleicht ein guter Hinweis, beide Lebenswelten, unsere und die des biblischen Textes, nicht vorschnell zu vermengen. Schließlich spielt die Szene aus dem Lukasevangelium zu anderer Zeit an einem anderen Ort. Hier der Text aus dem 5. Kapitel:

1Einmal drängte sich die Volksmenge um Jesus und wollte hören, wie er Gottes Wort verkündete. Jesus stand am See Gennesaret  2Da sah er zwei Boote am Ufer liegen. Die Fischer waren ausgestiegen und reinigten die Netze. 3 Jesus   stieg in eines der Boote, das Simon gehörte. Er bat Simon, ein Stück vom Ufer wegzufahren. Dann setzte er sich und sprach vom Boot aus zu den Leuten. 4Als Jesus seine Rede beendet hatte, sagte er zu Simon: »Fahre hinaus in tieferes Wasser! Dort sollt ihr eure Netze zum Fang auswerfen!«  5Simon antwortete: „Meister, wir haben die ganze Nacht hart gearbeitet und nichts gefangen. Aber weil du es sagst, will ich die Netze auswerfen.«  6Simon und seine Leute warfen die Netze aus. Sie fingen so viele Fische, dass ihre Netze zu reißen drohten. 7Sie winkten die Fischer im anderen Boot herbei. Sie sollten kommen und ihnen helfen. Zusammen beluden sie beide Boote, bis sie fast untergingen.8Als Simon Petrus das sah, fiel er vor Jesus auf die Knie und sagte: „Herr, geh fort von mir! Ich bin ein Mensch, der voller Schuld ist!« 9Denn Schrecken ergriff ihn und die anderen, die dabei waren, weil sie einen so gewaltigen Fang gemacht hatten. 10So ging es auch Jakobus und Johannes, den Söhnen von Zebedäus. Sie arbeiteten eng mit Simon zusammen. Da sagte Jesus zu Simon: »Hab keine Angst!  Von jetzt an wirst du ein Menschenfischer sein!« 11Da zogen sie die Boote an Land, ließen alles zurück und folgten Jesus.          

 

Ich steige gleich mitten in die Geschichte ein und zwar bei der Reaktion des Simon auf den Superfang, den sie gemacht haben. Seine Reaktion finde ich nämlich erstmal irritierend. Eher denkbar wäre ja so etwas gewesen wie:  „Hammer! Das war ja der Super-Tip. Jesus, kannst du uns nicht öfter so helfen. Dann könnten wir unsere Schulden bezahlen, Netze reparieren, sogar mal ein Fest feiern, - oder vielleicht auch eine Kooperative aufbauen. Dann hätten wir mit unseren Familien wenigstens etwas mehr Sicherheit und nicht ständig die Angst, in Schuldsklaverei zu müssen.“

So hätte es sein können. Doch Simon reagiert anders. Ihn packt der Schrecken. Biblisch ist er da in guter Gesellschaft. Immer wieder wird erzählt: wenn Menschen vom Geheimnis Gottes angesprochen werden, ist das für sie auch mit Schrecken verbunden. Vielleicht, weil sie etwas von der Macht Gottes spüren, das Gefühl haben, ausgeliefert zu sein, nicht mehr kontrollieren zu können. Und weil sie im Kontakt mit Gott ahnen: Mein Leben kann nicht so bleiben wie es ist.

Jesus, so beginnt unsere Szene, ist ja ins Boot von Simon gestiegen, um zu den vielen Menschen, die ihn aufsuchen, zu sprechen. Worüber hat er gesprochen? Über das Reich Gottes. Etwa so:  „Jetzt, heute und hier ist die Zeit gekommen, dass Gott einen neuen Anfang macht. Es geht um ein gutes Leben für die Abgehängten, die Armen, die  an Leib und Seele Erkrankten. Und Ihr: Ihr könnt dabei sein. Ihr sollt dabei sein Dazu ruft Euch Gott. Ändert Euer Leben!“

Ich vermute, Simon war beim Zuhören schon in den Bann von Jesus geraten, hatte dessen Macht gespürt. Sonst hätte er sich wohl kaum darauf eingelassen, gegen alle Fischererfahrung nochmal rauszufahren. Und als ihm mit dem Wahnsinnsfang diese

Macht auf den Leibe rückt, da wehrt sich etwas in ihm: „Nein. Geh weg!“ .

Simon, so lese ich die Geschichte, sieht in diesem Moment, wie weit weg sein Leben vom Reich Gottes ist. Wie wenig er in seinem Berufs- und Lebens-Alltag mit diesem Neuaufbruch zu tun hat, von dem Jesus ergriffen ist. Hier begegnet ihm der Anspruch, das eigene Leben zu ändern, ja ändern zu müssen!! Und schon ist der Widerstand da.

 

Und Jesus? Er ist Seelsorger, er sieht den Simon. Sieht seinen inneren Kampf, sieht vielleicht seine Sehnsucht und sieht auf jeden Fall das, was sich hinter der Abweisung verbirgt: die Angst.

Auf diese Angst spricht er Simon an: „Hab keine Angst!“ Und dann kommt der Auftrag: „Du bist jetzt ein Fischer im Reich Gottes.“

Und Simon ist getroffen, berührt, in der Bildlichkeit des Textes: von Jesus gefangen. In der Geschichte geschieht das von jetzt auf gleich. Vielleicht fasst sie auch im Zeitraffer zusammen, was in Wirklichkeit ein längerer Prozess war. Jedenfalls ändert Simon sein Leben, radikal. Lässt alles, was seinen Alltag vorher ausgemacht hat, und schließt sich Jesus an. Und mit ihm seine Kollegen Johannes und Jakobus.

 

Diese Geschichte hat, finde ich, einen eigenen Humor: dass im Augenblick des größten beruflichen Erfolgs die Fischer diesen in den Wind schießen und ganz neu etwas anderes beginnen. Wenn wir diese Geschichte heute hören: Wie provozierend ist das für eine Welt, in der meistens alles andere dem Wirtschaftserfolg untergeordnet wird!

Und: ich frage mich: Hilft diese biblischen Geschichte uns, das eigene Leben zu ändern? Weist  sie uns einen Weg aus der Schuld, in das System verstrickt zu sein, dass Tönnies und andere Betriebe  mit diesen Arbeitsbedingungen toleriert hat, dass viele von uns  an den Menschen aus Südost-Europa, die hier arbeiten und leben, mehr oder weniger  hat vorbei leben lassen. Hilft uns diese Geschichte aus der Verstrickung der meisten von uns, immer noch viel zu stark unseren Wohlstand über eine wirksame Klimapolitik und das Tierwohl zu stellen?

Vielleicht ist es auch weniger die biblische Geschichte selbst, die hilft. Eher  kann sie uns auf eine Spur setzen: Auf die Spur des gekreuzigten Jesus Christus, der unter uns lebendig ist.

Und ich frage mich: wie ist eine Begegnung mit ihm möglich?  Eine Begegnung; die uns nicht im Schrecken lässt, sondern in Bewegung bringt: in seiner Nachfolge?

Amen.

Ihr Pfarrer Stefan Salzmann

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